Interview mit Dr. Leo Trasande: „Wir können die Veränderung sein, die wir anstreben.“
Wir geben es offen zu: Wir sind voreingenommen. Wir haben Performance-Sportbekleidung entwickelt, die zu 100 % plastikfrei ist – weil wir die schädlichen Auswirkungen verstehen, die synthetische Materialien haben, in erster Linie auf unseren Körper und darüber hinaus auf die Umwelt. Aber Sie müssen uns das nicht einfach glauben.
Wir haben uns mit Dr. Leonardo Trasande, MD, MPP, zusammengesetzt – einem international anerkannten Experten für Umweltgesundheit, dessen bahnbrechende Forschung zu hormonstörenden Chemikalien und deren Auswirkungen auf die menschliche Entwicklung, insbesondere bei Kindern, weltweit zitiert wird.
Als Kinderarzt, Endokrinologe und erfahrener Marathonläufer mit bereits 26 absolvierten Rennen bringt Dr. Trasande sowohl wissenschaftliche Fakten als auch persönliche sportliche Erfahrung in das Gespräch ein. Wer könnte also besser Auskunft geben über die tatsächlichen Auswirkungen synthetischer Stoffe auf unseren Körper – besonders dann, wenn wir ihn zu Höchstleistungen antreiben?
Als Endokrinologe und 26-facher Marathonläufer – können Sie erklären, was tatsächlich mit unserer Haut passiert, wenn wir während des Trainings synthetische Stoffe tragen?
Nun, ich bin Marathons auf der ganzen Welt gelaufen. Und im Laufe der Jahre habe ich aus erster Hand gesehen, in welchem Ausmaß Plastik Teil des Laufens geworden ist. Bei all diesen Rennen sieht man unterschiedliche Ansätze in Sachen Nachhaltigkeit – und das zeigt mir, dass wir noch viel besser kommunizieren müssen, was wir tun können, um giftige Belastungen durch Plastik zu vermeiden.
Denn biologisch gesehen passiert Folgendes: Wenn wir laufen, erzeugen wir Wärme, und diese Wärme wird über die Haut abgegeben. Gleichzeitig nutzen wir Schweiß als Kühlmechanismus – und in diesem Moment sind die Poren weit geöffnet. Das begünstigt den Fluss von Chemikalien, die in synthetischen Materialien enthalten sind und direkt mit unserer Haut in Kontakt kommen. Es ist also kein Geheimnis, dass, wenn die Materialien selbst hormonstörende Chemikalien enthalten, diese unter solchen Bedingungen leichter aufgenommen werden können – und genau das macht uns anfällig für diese toxischen chemischen Einwirkungen.
Wo fängt man am einfachsten an?
Es gibt proaktive Schritte, die wir alle als Läuferinnen, Läufer und Sportler unternehmen können, um unsere Belastung zu verringern. Einer der einfachsten Schritte besteht darin, zunächst eine Schicht aus natürlichen Stoffen direkt auf der Haut zu tragen – sie dient als Barriere gegen die Aufnahme von Chemikalien. Meine allgemeine Strategie ist: Wenn ich Plastik tragen muss – sagen wir, ein bestimmtes Startnummern-Bib oder ein spezielles synthetisches Material – dann trage ich zumindest eine Schicht aus Naturfasern darunter. So wird verhindert, dass die Haut als Eintrittspforte für diese Chemikalien in unseren Körper dient.
Brechen wir das einmal herunter: Unser Körper produziert natürliche chemische Botenstoffe – Hormone – um zu funktionieren. Wie greifen synthetische Chemikalien in dieses System ein?
Hormone sind unsere natürlichen Signalmoleküle. Sie senden „Verkehrssignale“ zwischen den Organen: von der Schilddrüse zum Gehirn, vom Herzen zu anderen Organen oder zurück zum Herzen. Unter normalen Bedingungen sorgen sie dafür, dass unser Körper wie eine gut eingespielte Symphonie funktioniert.
Das Problem ist, dass wir in den letzten rund 80 Jahren neue synthetische Chemikalien – keine natürlichen – in unseren Körper eingeführt haben, und zwar in Konzentrationen, die den natürlichen Hormonen ähneln, die in unserem Körper vorhanden sind. Diese Chemikalien beeinflussen die natürlichen Hormone, die so wichtig sind für Temperatur, Stoffwechsel, Salz- und Zuckerspiegel.
Wir wissen, dass Chemikalien, die unsere Hormone „hacken“, u. a. Folgendes umfassen: Flammschutzmittel, Pestizide, Bisphenol S (BPS, verwendet in Aluminiumdosen-Innenseiten und Thermopapierbelegen), Phthalate (in Körperpflegeprodukten, Kosmetika und Lebensmittelverpackungen). Es gibt etwa 16.000 solcher Chemikalien, aber wir kennen nur rund 4.000 davon – über den Rest wissen wir bislang nichts.
Sie haben erwähnt, dass diese Chemikalien unsere Hormone „hacken“ – was bedeutet das konkret für unsere Gesundheit?
Nun, diese Chemikalien beeinflussen uns von der Wiege bis zur Bahre, von der Geburt bis zum Tod. Wir sprechen von Frühgeborenen, von Babys, die während der Schwangerschaft ein Wachstumsdefizit erleiden. Wenn Babys beispielsweise zu klein geboren werden, wird ihr Stoffwechsel so umprogrammiert, dass ihr Körper versucht, möglichst viele Kalorien zu speichern. Sie speichern Kalorien als Fett – teilweise sogar um das Herz herum.
Diese Chemikalien in der frühen Lebensphase programmieren den Körper also so um, dass er sich maladaptiv an die Umwelt anpasst. Wir wissen, dass sie eine frühe Pubertät begünstigen können, was Auswirkungen auf die reproduktive Entwicklung hat. Sie können auch die reproduktive Entwicklung bei der Geburt beeinflussen und zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes beitragen. Bestimmte Krebsarten – insbesondere Schilddrüsen-, Brust-, Eierstock- und sogar Prostatakrebs – lassen sich in Zusammenhang mit diesen Chemikalien beobachten.
Ich bin Kinderarzt von Ausbildung her, und so sehr ich betone, dass Kinder besonders anfällig für diese Chemikalien sind – tatsächlich sind wir alle empfindlich gegenüber diesen Einflüssen.
Ich will Paracelsus nicht im Grab umdrehen lassen. (Lacht) Aber Tatsache ist, dass uns die Wissenschaft seit damals neue Erkenntnisse über die Natur gelehrt hat. Tatsächlich haben uns allein in den letzten 20 Jahren über 500 Studien gezeigt, dass es bestimmte Chemikalien gibt, bei denen die Dosis nicht immer das Gift bestimmt.
Es kommt auf die Genetik an, auf die Mischung der Chemikalien, denen wir ausgesetzt sind, auf unsere individuelle Anfälligkeit aus anderen Gründen – und diese Chemikalien verhalten sich besonders in Bezug auf unsere Hormone auf ungewöhnliche Weise. Viele Hormone folgen eben nicht linearen Zusammenhängen. Das ist vielmehr ein menschliches Konstrukt, das wir der Biologie auferlegen.
Also haben wir die Wirkungsweise dieser Chemikalien zu sehr vereinfacht…
Genau, die Biologie ist viel komplexer. Es gibt sehr lineare Zusammenhänge, aber auch nicht-lineare Beziehungen, bei denen beispielsweise die niedrigsten Belastungslevel die größten Effekte auslösen. Dann gibt es nicht-monotone oder U-förmige Funktionen: Es kann Effekte bei sehr niedrigen Expositionswerten geben, keine Wirkung bei mittleren Werten und dann wieder stärkere Effekte bei hohen Werten.
Das liegt daran, dass im Körper manchmal konkurrierende Hormone oder konkurrierende Rezeptoren existieren, die unterschiedlich auf verschiedene Belastungsstufen reagieren.
Worauf sollten wir achten?
Nun, ich sage immer: Wissen ist Macht. Es ist wichtig, Verbraucherinnen und Verbraucher mit den Informationen auszustatten, die sie brauchen, um die Veränderung zu sein, die wir sehen wollen. Ich empfehle, die Etiketten von Körperpflegeprodukten und Kosmetika genau zu prüfen und nach Begriffen wie „Phthalat“ oder „Fragrance“ zu suchen, da hier oft andere synthetische Chemikalien versteckt sein können, die die menschliche Entwicklung beeinträchtigen könnten.
Bedeutet das, dass ich darin perfekt bin? Nein, niemand ist perfekt. Das möchte ich ganz klar sagen. Viele Menschen machen sich unnötig Sorgen, perfekt sein zu müssen.
Und viele Menschen fühlen sich dadurch oft entmutigt – als hätten ihre individuellen Entscheidungen keinen Einfluss. Hat die Reduzierung der Exposition tatsächlich messbare Effekte?
Tatsächlich wissen wir, dass man durch die Verringerung der Plastikbelastung die Werte dieser Chemikalien innerhalb weniger Tage deutlich senken kann – nachweisbar im Urin. Die Veränderung erfolgt sehr schnell, da die meisten dieser Chemikalien sogenannte „kurze Halbwertszeiten“ haben. Sie werden rasch über die Nieren oder die Leber über den Darm ausgeschieden.
Die hormonellen Veränderungen zeigen sich dann über Wochen oder Monate. Es gibt also auch mittelfristige Vorteile, und langfristig reduziert man so das Risiko für chronische Krankheiten, die durch diese Expositionen begünstigt werden.
Aber das System ist ja nicht gerade darauf ausgelegt, es uns leicht zu machen, oder?
Genau, das System ist „rigged“. Über viele Lebensbereiche hinweg wird uns Plastik aufgedrängt. Das bedeutet aber nicht, dass man zusätzlich Schuldgefühle haben sollte. Es bedeutet vielmehr, dass man sich bewusst darum bemühen sollte, die Exposition gegenüber giftigen Stoffen zu reduzieren.
Ich wende das auch beim Laufen an. Es gibt Momente, in denen ich ein Gel brauche oder Flüssigkeit aus einem Plastikbehälter zu mir nehmen muss. Darüber obsessiere ich mich nicht, aber ich kontrolliere, was ich kann, und ergreife die Schritte, die mir möglich sind.
Was wird Ihrer Meinung nach tatsächlich nötig sein, um einen systemischen Wandel herbeizuführen?
Ich denke, an erster Stelle brauchen wir unabhängige Wissenschaft. Wir wissen, dass von der Industrie finanzierte Studien und deren Ergebnisse stark voreingenommen sein können. Eine enge Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen, um die Auswirkungen der Plastikproduktion und -nutzung von lokal bis global zu kommunizieren, ist entscheidend.
Im August war ich bei den Verhandlungen zum Global Plastic Treaty in Genf, und trotz allem, was manche sagen – für mich war es ein Erfolg: Wir haben Unternehmen gesehen, die das Richtige tun, sich engagieren und sagen: „Wir wollen einen ambitionierten Treaty.“ Wir müssen einfach weiter für diesen Wandel eintreten, zu dem es bereits breite Übereinstimmung gibt.
Aus Neugierde: Wenn Sie mit der Läufergemeinschaft über dieses Thema sprechen, welchen Einwänden begegnen Sie?
Nun, ich denke, manche Leute sagen: „Es ist unmöglich, Plastik loszuwerden.“ Und ich bin kein strikter Purist. Ich glaube durchaus, dass es Fälle gibt, in denen der Einsatz von Plastik essenziell ist, weil keine anderen Materialien verfügbar sind oder die Technik keine Alternativen zulässt – die medizinische Versorgung ist ein gutes Beispiel dafür. Ich arbeite im medizinischen Bereich, und es gibt Kunststoffe, ohne die Geräte nicht funktionieren könnten: Das ist ein „Sondergebrauch“.
Es kann auch Sonderfälle im Laufsport geben, zum Beispiel bei Laufschuhen. Aber es gibt eindeutig viele nicht-essenzielle Anwendungen, in denen Plastik eingeführt wurde, die absolut nicht notwendig sind – getrieben von Unternehmen, die Plastik einfach als billigstes Material einsetzen wollen.
Ich schlage also nicht vor, dass wir bei Marathons überall Glasbehälter aufstellen oder auf Glas laufen – das würde keinen Sinn machen. Idealerweise sollten wir einen bewussten, durchdachten Ansatz für den Laufsport entwickeln, der mit der Zukunft in Einklang steht, besonders da der Sport weiterhin wächst.
Die Verbraucherwahl ist der Hebelpunkt.
Genau, und je bewusster wir als Konsumenten agieren, desto eher werden wir die Veränderung sein, die wir sehen wollen. Ich glaube fest an die Macht des Geldbeutels. Das heißt: Wir alle sehen uns vielleicht als kleine Einzelakteure in einer größeren Kraft – aber durch Verbraucheraktivismus und bewusste Kaufentscheidungen können wir Unternehmen dazu bewegen, das Richtige zu tun. Denn wenn man Gewinnstreben mit der Reduzierung toxischer Chemikalien in Einklang bringt, reagieren die Unternehmen.
Wenn es einen Markt, eine Nachfrage nach diesen Materialien gibt, wird dieser Markt früher oder später auch die Preise senken. Ich sage nicht, dass Unternehmen keinen Profit machen sollten, wenn sie das Richtige tun – ganz im Gegenteil. Aber wenn man Marktanteile gewinnt, greifen Skaleneffekte, die den Preis weiter senken.
Als Analogie kann man Bio-Lebensmittel betrachten: Vor zehn Jahren sagten mir in den USA viele Leute: „Oh, du zwingst die Menschen zu schwierigen Entscheidungen und sie essen weniger Obst und Gemüse, weil es nicht bio ist.“ Heute sehe ich in großen Supermärkten Bio-Obst und -Gemüse direkt neben konventionell angebautem – und die Preise sind gleich oder sehr ähnlich. Der Preis ist also nicht länger das Problem.
Darauf hoffen wir auch im Bereich Sportbekleidung.
Ich sehe ein ähnliches Phänomen beim Laufen: Läuferinnen und Läufer gehören, soweit ich das beurteilen kann, zu den bewusstesten und gesundheitsorientiertesten Menschen, die man kennt. Wenn sie von diesen Themen erfahren, beginnen sie, Veränderungen vorzunehmen. Zunächst kleine Schritte, die sich aber summieren und zu größeren Veränderungen führen. Und genau darin sehe ich eine enorme Hoffnung.
