Ella Maillart: Erinnerungen einer Schwalbe
Sie war nämlich eine seltene Person. Eine bemerkenswerte Sportlerin, die sich in Feldern wie Handel, Segeln und Filmkunst versucht hat. Aber in ihrem tiefsten Kern war sie eine Reisende. Ihr Schreiben entsprang eher einer Notwendigkeit als einem Verlangen, aber sie hatte ein anhaltendes journalistisches Gespür und ein scharfes Auge für Fotografie.
Geboren im Jahr 1903 in eine wohlhabende Familie am Ufer des Genfersees, litt Ella als Kind unter Krankheiten. Auf Anraten ihrer Mutter, einer Sportlerin dänischer Herkunft, und ihres Arztes wurde sie recht schnell aktiv in diversen Outdoor-Sportarten. Sie stich durch ihre Liebe zum Risiko und ihr kühnes Verhalten hervor, denn sie fühlte den Drang, eher den schwierigen Weg zu suchen, um so auf die harte Tour zu lernen. Ihre Jungendjahre entfalteten sich im Rhythmus der Jahreszeiten und so wurde sie von einer Leidenschaft für das Skifahren im freien Wind des Walliser Winters ergriffen. Jahre später nahm sie viermal hintereinander an den Weltmeisterschaften teil.
„Manchmal glaube ich, dass das Skifahren dafür verantwortlich ist, mich zur Nomadin gemacht zu haben. Sobald der Winter hereinbrach, sehnte ich mich so sehr danach, Skier durch den frischen Schnee fahren zu sehen, dass ich, egal wo ich war – sei es in Berlin, Paris oder sogar an Bord der Perlette – meine Aktivitäten unterbrach oder aufhörte, mir Gedanken darüber zu machen, was ich nicht tat, und ab in die Berge ging.“[1]
Als die Temperaturen wieder stiegen und die Gewässer wieder zum Leben erwachten, setzte sie die Segel, um die See zu umarmen, die ihre erste Lehrerin war. Sie hat sich die Kunst des Segelns selbst beigebracht, vom bescheidenen Beiboot bis zur sieben Meter langen Yacht. Das Meer und seine vielen Geheimnisse zogen sie an, wie der Gesang einer Sirene. Im zarten Alter von 20 Jahren segelte Ella mit ihrer Freundin Hermine de Saussure durch das Mittelmeer, von Korsika bis Ithaka auf einer Yacht, die sie von Louis Breguet gekauft hat. Sie lernten Alain Gerbault kennen, der später die erste Weltumseglung im Alleingang absolvieren haben wird.Er steckte sie auch mit seiner Faszination für die Inseln Polynesiens an. Heimlich bereiteten die Mädchen ihre erste Expedition vor und rekrutierten eine ausschließlich weibliche Crew. Ihr Ziel: Gerbaults Leistung nachzuahmen und ein nomadisches Leben auf ihrem Boot zu führen. Doch das Meer ist unnachgiebig und kurz nach der Abreise erkrankte Hermine. Ohne ihre Kapitänin blieb ihr wenig übrig, außer zurück ans Ufer zu segeln.
Der Erste Weltkrieg hatte Narben hinterlassen, die schwierig zu verblassen schienen. Selbst die Schweizer Jugend, die von den vielen Konflikten geschützt war, spürte die Spannungen, die über den zerschmetterten Körper Europas hinwegliefen. Ella wünschte sich nichts mehr, als dem Griff der Melancholie zu entkommen – dieser dunklen Krankheit, die die junge Generation bedrohte. Für einen Moment rettete sie sich durch ihren Wettbewerbsgeist. Als einzige weibliche Schweizer Teilnehmerin in der olympischen Regatta von 1924, beendete sie das Rennen als 7te von 19 Teilnehmern. Bei einer Erkundungstour durch Europas Städte entdeckte sie für sich den Stummfilm in den Studios von Berlin, hatte eine kurze Karriere als Sportdoppelgängerin und agierte auch kurz als Schauspielerin in Bergfilmen. Übrigens, drehte Marlene Dietrich den Blauen Engel nebenan. Obwohl die breite und freundliche Stadt vor Möglichkeiten nur so brummt, träumte Ella von etwas Größerem. Am Tor des Westens rief das unendliche Russland und der Sowjetismus nach ihr und der Wunsch nach einem fernöstlichen Land in ihr. Ihre lange Reise hatte nun begonnen.
Heutzutage, auch wenn Hochgeschwindigkeitsverbindungen und der sofortige Informationsverkehr die Legenden verdrängt haben, die den Schlaf unserer Großeltern erfüllten, behalten einige Orte weiterhin ihre Aura des Geheimnisvollen. Dazu gehört die Region, die sich vom Kaspischen Meer bis nach China erstreckt: das vielfältige Turkestan. Es ist ein ungewöhnliches Reiseziel, abseits der beliebten weißen Sandstrände und den grünen Alpen. Obwohl es nicht so einfach ist, eine solche Reisezielwahl zu erklären, fühlten sich Ella und ihre Crew immer wieder zu diesen Ländern hingezogen. Vielleicht gab es in diesem Raum, in dem unsere vertraute Welt verschwindet, ein Versprechen, das uns dazu verführt, aus der Zeit herauszutreten und zu uns selbst zurückzufinden. Zweifellos folgte Ella ihrem inneren Flüstern, während sie Turkestan von einem Punkt zum anderen durchquerte und ihre Eindrücke niederschrieb.
Ihr Ziel lag auf den Höhen des Tien Shan, von wo aus sie einen Blick auf den Taklamakan, die verbotene Wüste, geworfen hat, die sie sich eines Tages vornehmen wollte. Als ihr das Geld ausging, musste sie die Reise allerdings verschieben und in die Schweiz zurückkehren. Ihre Rückreise durch den Balkan wurde von einem Rascheln antikommunistischer Bewegungen begleitet. Ella reiste vor allem allein und manchmal sogar ohne die notwendigen Papiere.
Schließlich endeten die finanziellen Engpässe, die ihre Freiheit behinderten. Beauftragt von einer großen französischen Zeitung, sollte sie eine Reisereportage über China zu schreiben. Sieben Monate lang durchstreifte sie das Land mit Peter Fleming, einem Reporter der Times, der zum MI6-Agenten wurde. Das Duo bahnt sich den Weg von Peking nach Kaschmir, um die Polizeikontrollen zu umgehen und sich in versperrte Gebiete zu einzuschleichen. Anschließend folgten Libanon, die Türkei und Afghanistan und vervollständigten Ellas Asiendurchquerung. Ihr Reisen dokumentierte sie unermüdlich, mit einem einfachen Stift und ihrer Leica-Kamera.
1939 brach der Krieg aus, begleitet von Dröhnen der Panzer. Um sie herum mobilisierten sich die Leute und schlossen sich dem Widerstand an, aber Ella entschied sich dafür zu fliehen und flog wie eine Schwalbe in ein freundlicheres Gefilde. Sie identifizierte sich als Individualistin, ungeeignet für die Banalitäten und Politik der Alten Welt. Und so brach sie ein weiteres Mal auf, fest entschlossen, den Kontinent mit einem Fussstoss zurückzulassen. Ihre Reise brachte sie diesmal nach Indien, dem Königreich der Schlangen und Katzen.
Während Nationen zusammenbrachen und Allianzen auseinanderfielen, folgte Ella den Lehren der Weisen und wagte ihren inneren Pfad zu bestreiten. Der Frieden kehrte aber später zurück. Das Pfeifen des Waffenstillstands durchdringte das wolkige Europa. Es war Zeit, nach Hause zu komme.
„Ich verbrachte sechs Sommermonate im Wallis, in einem Dorf auf 2000 Metern, dass durch Sonne und Stille geradezu durchdringt wurde. Das Dorf lag auf einem Berghang, geschmückt mit Lärchenbäumen und der weitläufige Horizont brachte mir hier immer wieder Freude.“[2]
Welches Zuhause gibt es für eine Vagabundin, die sich überall anpasst und nirgendwo zu Hause ist? Sicherlich nicht das kosmopolitische Genf. Ella kehrte zu ihrer ersten Liebe zurück, dem ungezähmten Schweizerland, dessen Gipfel und Bergsee die Stille ihrer Himalaya-Pendants widerspiegelten. Sie ließ sich in Chandolin im Val d'Anniviers für die kommenden Sommer nieder, verliess ihr Nest aber wieder, um den hohen Gipfel Nepals zu erkunden.Der Ausklang
Ella Maillarts Leben und vor allem Reisen brachten sie zum Nachdenken, ganz gleich, ob sie in den Sandewüsten oder den Bergen gerade war. Eine Frage beschäftigte sie: Was war ihr Wahres Ich? Nachdem sie keine Antwort beim Menschen suchte, richtete sie ihren Blick auf den Horizont und nahm die Weite ihrer Reisen in sich auf. Schließlich wurde ihr sogar eine Antwort erwidert.
Was hatte sie für einen Grund, die entlegensten Bevölkerungsgruppen so eifrig zu verfolgen? Die Moderne manifestierte sich gewaltsam und erstreckt ihre Asphaltgriffe bis in die Steppen. Durchdrungen von einem Leben in freier Natur, ahnte sie die unumkehrbaren Veränderungen voraus, die sich in den Furchen des Fortschritts abzeichneten. Und die uns in eine hoffnungsvolle, aber verirrte Menschheit verwandeln würde. Ohne das einfache und langsame Leben der Bergbewohner und Nomaden, fehlte den Menschen etwas.
Als Bergführerin in Nepal in den 70er Jahren erlebte Ella, wie sich die Welt veränderte. Sie tauschte daher einmal ihre Wanderungen gegen einen 20-minütigen Hubschrauberflug aus. Die Rotoren wirbeln und ihr Surren übertönte den sanften Klang der Schritte im Schnee und den Atem der Anstrengung. Sie war weit weg vom Boden, aber mit ihren himmelsgleichen Augen, in denen sich ihre Reisen widerspiegelten und die Gesichter der Menschen, die sie kennenlernen durfte, war es für sie noch nie so einfach zu sich selbst zurückzufinden.